Nicht Goethe oder Schiller, nicht Thomas Mann oder Bert Brecht, der Prager Jude Franz Kafka ist der exemplarische deutsche Schriftsteller. So sieht es jedenfalls der in Siegen geborene deutsch-iranische Autor Navid Kermani [Navid Kermani: Was ist deutsch an der deutschen Literatur? In: Süddeutsche Zeitung, 21.12.2006].

Aber wie bringt man Schülerinnen und Schülern einen Autor wie Kafka näher, ohne in die biografische Falle zu tappen und in Gregor Samsa und Josef K. lediglich Spiegelungen eines unter seinem Vater und seinem Beruf leidenden Franz Kafka zu sehen?
Am besten, man holt sich einen Experten – und zwar den Literaturwissenschaftler, Publizisten und Autor der hochgelobten und ausgezeichneten dreibändigen Kafka-Biografie Dr. Reiner Stach. (Der zuletzt erschienene Band „Kafka. Die frühen Jahre“ wurde 2015 das „Historische Buch des Jahres“.)
Herr Dr. Stach reiste extra aus Berlin an, um am 11.3.2016 einen Vortrag zur Lebenswelt Kafkas zu halten. Da wir auch das Städtische Gymnasium Kreuztal für diese Veranstaltung gewinnen konnten, fanden sich in der Kreuztaler Stadthalle 370 Oberstufenschüler beider Schulen ein.
„Was für ein Autor ist Kafka?“ Stach machte schnell deutlich, dass es auf diese Frage keine einfachen Antworten gibt. Immer wieder verknüpft mit Bezügen zur Biografie Kafkas entfaltete Stach ein Porträt von Prag um die Jahrhundertwende.
Zur Veranschaulichung dienten Ausschnitte aus einem heute noch im Stadtmuseum zu bestaunenden Stadtmodell von Prag aus den 30er Jahren des 19. Jhs. und zahlreiche eindrucksvolle historische Schwarz-Weiß-Fotografien z.B. vom Altstädter Ring, wo fast jedes zweite Haus einen Bezug zu Kafkas Leben hat, dem jüdischen Ghetto, Kaffeehäusern als beliebten Orten der Freizeitgestaltung, der Civilschwimmschule, die Kafka als leidenschaftlicher Schwimmer aufsuchte, u.v.m.

Deutlich wurden dabei nicht nur die Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen, Judenhass in den Prager Gassen, die Ideen des Zionismus und des Nationalismus, sondern vor allem auch der Aufbruch in die Moderne: städtebaulich, technisch und künstlerisch.
Deutsch-österreichisches Obrigkeitsdenken mit minutiös durchdachter Bürokratie einerseits und technologische Erneuerungen durch tschechische Erfinder (etwa die ersten Straßenbahnen) andererseits sind beispielhaft für das für Prag um 1900 typische Aufeinandertreffen von Alt und Neu, Tradition und Moderne – ein zentrales Motiv, das sich auch in Kafkas Texten wiederfindet.
Kafkas ganz eigenen Humor zeigte Stach an folgendem Detail: Die Prager Juden wollten gerne den Kaiser Franz Josef behalten, hierin waren sie konservativ, weil der Kaiser ihnen als Garant ihrer Sicherheit erschien. Aus Verehrung für den Kaiser nannten Kafkas Eltern ihren Sohn denn auch mit Vornamen Franz. Dieser Franz nannte nun seinerseits den Protagonisten im „Prozeß“ Josef K.